Wie ein unabhängiger Senator aus Neuengland den Vorwahlkampf der Demokratischen Partei von links aufrollt und warum er eine ernste Gefahr für die Nominierung Hillary Clintons als Präsidentschaftskandidatin darstellt:

Als Bernie Sanders am 29. April 2015 seine Kandidatur für die Nominierung als Präsidentschaftskandidat der Demokratischen Partei bekanntgab, war das der New York Times eine kurze Erwähnung auf den letzten Seiten des Politikteils wert, in der Sanders als ‚unwahrscheinlicher Kandidat‘ (‚long shot‘) bezeichnet wurde, während Clinton einen ‚lock‘ auf die Nominierung habe. Andere Zeitungen berichteten ähnlich knapp oder gar nicht über den ersten ernsthaften Konkurrenten der unangefochtenen Spitzenreiterin Hillary Clinton. Dabei ist der Senator aus Vermont ein Unikum im politischen System der USA und seit Langem ein Liebling des linken Flügels der Demokraten: Ein Sohn jüdischer Einwanderer aus Polen, geboren und aufgewachsen in Brooklyn, New York, der es geschafft hat, als unabhängiger Kandidat unter dem Banner des „Demokratischen Sozialismus“ erst Bürgermeister der Hauptstadt Vermonts, Burlington, dann Repräsentant im Abgeordnetenhaus und schließlich sogar Senator zu werden.
Auch als bekannt wurde, daß seine Kampagne innerhalb der ersten vier Tage über drei Millionen US-Dollar an Spenden von über 75000 Spendern eingesammelt hat, deren durchschnittliche Spende 43,-US$ betrug (sogenannte ‚Kleinspender‘), daß sich darüber hinaus bereits 185.000 Freiwillige in die E-Mail-Verteiler der Sanders-Kampagne eingetragen hatten, berichteten vor Allem Insider-Publikationen und Demokratische Blogs. Der begeisterte Empfang, den Sanders Tausende bei seiner ersten öffentlichen Wahlkampfveranstaltung, dem „Campaign Kick-Off“, am 26.05. in Burlington, seiner alten Wirkungsstätte als Bürgermeister (und in einem von ihm gegen Immobilienspekulanten durchgesetzten öffentlichen Park) bereiteten, überraschte die Vertreter der Leitmedien nicht – es war klar, daß ‚Bernie‘ wie er kurzerhand von Unterstützern und Reportern genannt wird, in Vermont über die Grenzen der politischen Lager hinweg einen harten Kern von loyalen Fans hat. Außerdem sei Burlington, Vermont – „eine Stadt voll schräger Typen, die bei Hillary schon in der Vorauswahl ihrer Wahlkampftour aussortiert worden wären“ – kaum repräsentativ für die Bevölkerung der USA.
Doch dann begann der wirkliche Vorwahlkampf: Da traditionell die ersten Parteiversammlungen (‚caucuses‘) der partei-internen Vorwahlkämpfe in Iowa und die ersten Vorwahlen (‚primaries‘) in New Hampshire stattfinden, kommt diesen beiden Bundesstaaten ein überdurchschnittliches Maß an Aufmerksamkeit der Kandidaten zu: Obwohl beide Staaten aus einer Reihe von Gründen kaum repräsentativ für die Wahbevölkerung der USA sind (sehr klein, geringe Bevölkerung, geringer Anteil an Minoritäten, spezifische ökonomische Basis (Iowa: Landwirtschaft, New Hampshire: Finanzsektor)) ist ein erfolgreiches Abschneiden in mindestens einem der beiden Staaten entscheidend für den weiteren Verlauf des (Vor-)Wahlkampfs. Hier zeigt sich, ob ein Kandidat auch weiterhin mit der notwendigen Unterstützung von Aktivisten und Spendern rechnen kann.
Und Bernies Start in Iowa war fulminant: Nachdem bei einer Wahlkampfveranstaltung in Kensett, Iowa, einem Ort mit 240 Einwohnern, mehr als 300 begeisterte Zuschauer gezählt worden waren, schrieb der Kreisvorsitzende der Demokraten an den Chef von Hillary Clintons Wahlkampfteam in Iowa:
„Objects in your rearview mirror are closer than they appear.“
Was wie eine übermütige Provokation aussah, wurde in der Folge von Sanders‘ Auftritten in Iowa, aber auch in anderen wichtigen Vorwahlstaaten wie New Hampshire, South Carolina und Nevada bestätigt: Jede seiner Veranstaltungen ist nach kurzer Zeit, manchmal nur Stunden, ausgebucht, regelmäßig muß deshalb auf größere Veranstaltungsorte ausgewichen werden und trotzdem gibt es oft ‚overflow crowds‘, die in anderen Räumen, auf Fluren oder vor Gebäuden den auf Videoleinwände übertragenen Ausführungen des Kandidaten lauschen. In kurzer Zeit etablierte sich Sanders so als der Kandidat mit den größten Veranstaltungen aller Vorwahlkandidaten.
Die Probleme, die Sanders bei seinen Auftritten thematisiert, sind die wachsende ökonomische Ungleichheit im Land, stagnierende Löhne, die Überschuldung von Universitätsabsolventen, die heruntergekommene Infrastruktur, der übermächtige Einfluß der Superreichen auf das politische System, die Ent-Demokratisierung der USA, die Militarisierung im Inneren wie in der Außenpolitik. Seine Rezepte sind klassisch sozialdemokratische Politiken: Große Beschäftigungs- und Infrastrukturprogramme der Regierung, kostenlose Bildung, die durch Steuern auf Wall-Street-Profite finanziert wird, eine universelle Krankenversicherung für alle amerikanischen Staatsbürger, eine Verdoppelung des bundesweiten Mindestlohns auf 15,-US$. Diese Positionen, die, wenn auch nicht in Details, so doch in ihrem Geist an die Ära Franklin D. Roosevelts und des New Deal erinnern, liegen im heutigen Diskurs in den USA fernab des Mainstreams, weit weit links. Bernie Sanders bezeichnet seine politische Haltung als „democratic socialism“ und bezieht sich damit bewußt oder unbewußt auf eine Einteilung des dänischen Soziologen Gøsta Esping-Andersen, der in seinem Werk „The Three Worlds of Welfare Capitalism“ drei verschiedene Typen des Wohlfahrtsstaats unterschieden hatte: den konservativen Wohlfahrtsstaat (z.B. Deutschland, Österreich), den liberalen Wolfahrtsstaat angelsächsischer Provenienz (USA, Australien, Canada) und den demokratischen Sozialismus der skandinavischen Gesellschaften. Mit der klassischen historisch-materialistischen Definition des Sozialismus als Volkseigentum an den großen Produktionsmitteln hat weder Esping-Andersen noch Sanders viel zu tun, doch schon die Erwähnung skandinavischer Vorbilder und des Wortes ‚Sozialismus‘ kommen in den USA üblicherweise politischem Selbstmord gleich. Umso erstaunter waren und sind die politischen Kommentatoren, daß es Sanders mit dieser ‚radikalen‘ Rhetorik gelingt, immer größer werdende Säle zu füllen.
Auch in die Meinungsumfragen kam Bewegung. Eine kleine Ewigkeit hatte Hillary Clinton den Vorwahlkampf für sich allein und dominierte dementsprechend alle Umfragen mit Werten von regelmäßig weit über 50%. Doch mit den ersten Meldungen über die enthusiastischen Massen bei Bernie Sanders‘ Events änderte sich auch seine Wahrnehmung unter Demokratischen Wählern: In einer Umfrage des Des Moines Register, der größten Zeitung in Iowa, hatte Sanders bereits Ende Mai einen Zuspruch von 16% der Demokratischen Wähler (und damit dreimal mehr Stimmen als bei der letzten Umfrage dieser Art), Hillary vereinte 57% der Stimmen auf sich. Bei einer Testwahl auf einem Demokratischen Parteitag in Wisconsin Anfang Juni gewann Hillary Clinton mit 49% – für Bernie Sanders stimmten aber überraschende 41%. Bei einer landesweiten Umfrage von Reuters/ Ipsos vom 10. Juni gewann Hillary Clinton 53%, Bernie Sanders 22% – alle anderen im Rennen befindlichen Kandidaten folgten weit abgeschlagen. Den größten Überraschungserfolg in Umfragen konnte Bernie allerdings in New Hampshire, einem Nachbarstaat von Vermont, in dem er aufgrund seiner langen politischen Karriere bereits bekannt ist, verbuchen: Clinton blieb in einer Umfrage der Morning Consult Group vom 14. Juni mit 44% unerwartet deutlich unter der Ziellinie von 50%, während Sanders ihr mit 32% gefährlich nahe kam. Und nur zwei Tage später veröffentlichte die Suffolk University eine Umfrage, in der Sanders mit 31% nur noch zehn Punkte hinter Hillary Clinton mit 41% lag.
Binnen weniger Wochen nach seinem offiziellen Wahlkampfauftakt hatte Sanders somit unter Beweis gestellt, daß er genug Geld, Unterstützer und Wähler mobilisieren kann, um die ‚Krönung‘ Hillary Clintons zur Kandidatin der Demokraten in einen echten Vorwahlkampf zu verwandeln. Er konnte nun nicht mehr von den Leitmedien des Landes ignoriert werden, zumal eine größer werdende Zahl prominenter Unterstützer ihre Begeisterung öffentlich machten. So verzichtete New Yorks Bürgermeister Bill deBlasio, einer der bekanntesten Linken im Land, auf die Teilnahme an Hillary Clintons Wahlkampfauftakt und lobte stattdessen ihren Herausforderer Sanders. Bereits beim Wahlkampfauftakt in Burlington hatten Ben Cohen und Jerry Greenfield, notorische Hippies und Gründer von ‚Ben & Jerry’s‚ kostenlos ihre berühmte Eiskrem unter die Leute gebracht und zur Wahl Sanders‘ aufgerufen. Nachdem der Republikaner Trump anläßlich seines Wahlkampfauftakts vor wenigen Tagen in New York zu „Rockin‘ In The Free World“ die Bühne betreten hatte (bzw. auf einer Rolltreppe heruntergeschwebt war), verbat sich dessen Schöpfer Neil Young diesen Mißbrauch seines Werks und gab zu Protokoll, er unterstütze Bernie Sanders. Schauspieler Mark Ruffalo („The Avengers“, „Infinite Polar Bear“) spricht sich genauso für Sanders aus („He’s the one. And he’s been there, man.“) wie seine Kolleginnen Susan Sarandon („We need a leader who is courageous and levelheaded in times of crisis.“) Mia Farrow, Roseanne Barr („He’s the best of all candidates.“) und Sarah Silverman („He says what he means & he means what he says & he’s not for sale.“), die renommierten Journalisten Bill Moyers, Glenn Greenwald und Matt Taibbi vom Rolling Stone („Give ‚Em Hell, Bernie„) und der Linguist Noam Chomsky („“I am glad that he’s doing it”)
Nachdem Hillary Clinton im Vorwahlkampf des Jahres 2007/08 von einem relativ unbekannten afro-amerikanischen Senator aus Illinois geschlagen worden war, weil sie ihn zu lange unterschätzt hatte, wird nun genau beobachtet, wie sie mit ihrem unwahrscheinlichen Herausforderer aus Vermont umgeht. Versuchte sie in den ersten Wochen noch, ihn zu ignorieren und ihm höchstens gönnerhaft für seine „guten Vorschläge“ zu danken, schlägt ihre Kampagne nun einen anderen Ton an. Da Bernies Sympathisanten auch von ihr noch benötigt werden, wenn es gegen den Republikanischen Kandidaten geht, kann sie ihn nicht direkt angreifen. Da Sanders für jeden überprüfbar seit 40 Jahren die gleichen Inhalte vertritt und auch verlässlich dieser Linie entsprechend in Abgeordnetenhaus und Senat abgestimmt hat (anders als Hillary Clinton stimmte Sanders z.B. 2003 gegen den Irak-Krieg von George W. Bush) und diese Linie den Präferenzen der Demokratischen Wähler weitestgehend entspricht, kann sie ihn weder wegen Inkonsistenz oder Korrumpierbarkeit noch wegen utopischer Politikvorstellungen kritisieren. Deswegen lässt sie in den Medien Zweifel an seiner Attraktivität für Latinos („I’m not sure Bernie Sanders likes immigrants„) und Afro-Amerikanern, und an seinen Chancen gegen einen Republikanischen Kandidaten streuen – während sie gleichzeitig die in sie gesetzten Erwartungen vorsichtig dämpfen lässt: „… in fact, we shouldn’t be surprised if he does very well in New Hampshire or in Iowa, and perhaps even wins.”
Auch wenn die meisten Kommentatoren im Moment nur soweit gehen, Bernie eine ernsthafte Herausforderer-Rolle zuzugestehen, und weiterhin relativ sicher mit einer Nominierung Hillary Clintons zur Demokratischen Kandidatin gerechnet wird, verweisen einige – vor dem Hintergrund der aktuellen Auseinandersetzung um die Freihandelsabkommen TPP, TTIP und TISA – auf die Möglichkeit einer Sensation. Hillary, so die Argumentation, sei eine essentiell schwache Kandidatin, da sie viel zu weit rechts von der Demokratischen Wählerschaft stehe, die die Nase voll habe vom Freihandel und immerwährenden Kriegen, Lohnsenkungen, Sozialabbau und einer Demokratischen Partei, die diesen Herausforderungen nichts entgegegenzusetzen habe. Einige sind sich sicher, daß Sanders Iowa oder New Hampshire gewinnen könne („There is a very real prospect that Senator Bernie Sanders wins an outright victory in the Iowa caucus and pulls off one of the most stunning upsets in modern political history.“) Bill Curry, ein ehemaliger Berater von Präsident Barack Obama, geht in seiner Kolumne mit dem Titel „Hillary Clinton is going to lose: She doesn’t even see the frustrated progressive wave that will nominate Bernie Sanders“ einen großen Schritt weiter: „Clinton’s positioning on TPP is way too cute. When it passes with Dems‘ implicit support, grass roots will explode“, und weiter,
„A bigger problem for Clinton may be that we know what she thinks. Her platform is like Obama’s trade deal; she won’t say what’s in it, but we can easily guess. It isn’t populism and it isn’t reform. The TPP? She never met a trade deal she didn’t like. The minimum wage? She and Obama let McDonald’s get the drop on them. The surveillance state? Her handling of her emails told us all we need to know of her views on transparency. More war in Iraq? For 12 years as a senator and secretary of state she was John McCain’s best friend. If she gets to be commander in chief, get ready to rumble.“
Sollte diese Sichtweise unter Demokraten mehrheitsfähig werden, so Curry, könne in einem langen Wahlkampf noch einiges passieren:
„Meanwhile, Bernie Sanders is the only candidate in either party who seems to feel the tectonic plates of our politics shifting, perhaps because he’s expected the change for so long. His is still an improbable candidacy, but less improbable than it was a month or even a week ago. If he clears out the second tier, his battle with Hillary could become epic, forcing not just her but the Democratic Party to choose between the middle class and the donor class; between corporate and democratic rule; the battle over trade carried over into a presidential election.“
Bis zu den ersten Parteiversammlungen in Iowa am ersten Februar und den ersten Vorwahlen in New Hampshire am neunten Februar sind es noch über sieben Monate, in Wahlkampfzeiten eine Ewigkeit, in der sich die Dynamik des „Rennens“ noch mehrfach ändern kann. Eines hat Bernie Sanders aber nachweislich jetzt schon erreicht: Die Amerikaner sprechen über den Sozialismus.
[…] Sozialisten Bernie Sanders auf Sicherheitsabstand zu halten: In New Hampshire liegt der unwahrscheinliche Kandidat in praktisch allen Umfragen weit vor der ehemaligen First Lady, und auch in Iowa kommt er ihr […]